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Religion ist eine große Ressource

Hacer Toprakoglu ist Sozialarbeiterin und gläubige Muslima. „Ich finde, die Religion ist im Kontext von Migration und Flucht eine ganz große Ressource“, sagt sie. „Egal, welcher Religion man angehört: Viele Menschen schöpfen daraus nach schwierigen Erfahrungen im Leben Kraft.“ Über sich selbst sagt Toprakoglu als Gast beim 12 Feierabendgespräch mit Kerstin Leitschuh von der Citypastoral Kassel: „Für mich ist der Glaube Kraft- und Motivationsquelle.“ Er bringe sie dazu, immer das Verbindende unter den Menschen zu suchen und zu sehen. Hacer Toprakoglu wurde 1988 im Ruhrgebiet geboren. Ihre Eltern kamen als sogenannte „Gastarbeiter“ aus der türkischen Region Anatolien nach Deutschland. Sie ist verheiratet, hat eine Tochter und das zweite Kind ist unterwegs. Toprakoglu hat an der Universität in Kassel Sozialwesen studiert, dort auch gearbeitet und war dann als Sozialarbeiterin im Migrationsdienst der Caritas in Kassel tätig. Sie ist Mitbegründerin der „Bildung und Soziale Innovation gGmbH“ (BiSi) mit Standorten in Kassel und Göttingen.

Bindestrich-Identitäten sind in Ordnung

Die BiSi ist eine gemeinnützige Gesellschaft, die überwiegend Bildungsprojekte für Migrant*innen und geflüchtete Menschen durchführt. Sie bietet Schulprojekte für Personen, die keine oder sehr wenig Chancen haben, den Hauptschulabschluss zu erlangen. Sie setzt sich auch mit kultureller Mehrfachzugehörigkeit auseinander und bietet durch Projekte Raum, die Bindestrich-Identitäten zu bedenken und zu reflektieren. Bindestrich-Identitäten sind Personen, die sich mehreren Kulturen zugehörig fühlen. „Früher hat man in meiner Generation von den Gastarbeiterkindern oder Gastarbeiterenkelkindern gesprochen“, erklärt Toprakoglu. „Diese sitzen zwischen den Stühlen, sind weder richtige Türken noch richtige Deutsche.“ Man müsse sich entscheiden. Heute sei die Literatur und die Pädagogik weiter: Die Menschen müssen sich nicht entscheiden, sie dürfen beides sein und dürfen auch beides fühlen. Die Sozialarbeiterin erzählt von Eltern, die aus Somalia kommen, die mit ihren in Deutschland geborenen Kindern darüber reden, ob diese Somalier oder Deutsche sind. „Die Kinder sagen, wir waren noch nie in Somalia. Das kann nicht meine Heimat sein. Als Deutsche sehen uns aber die anderen Menschen nicht, weil wir ja schwarz sind.“ Die Mitarbeitenden in der BiSi reflektieren diese Themen mit den Familien. „Die Kinder können beides sein. Es ist eine Frage des Gefühls und der Selbstzuschreibung. Es ist wichtig, darüber zu reden“, sagt Toprakoglu.

„Ich möchte als Muslima erkennbar sein“

Die Frage, ob sie als Muslima erkennbar sein möchte, sei eine ganz zentrale Frage in ihrem Leben gewesen. „Ich habe mich immer wieder in der Reflexion dafür entschieden. Religiöse Werte sind mit der säkularen Gesellschaft sehr gut zu vereinen.“ Wenn sie ihre Erkennbarkeit aufgeben würde, habe sie das Gefühl, auch diese Vereinbarkeit aufzugeben.

Die Sozialarbeiterin und Muslima spricht den Religionen in der Gesellschaft eine große Rolle zu. „Das haben wir auch bei Flüchtlingswelle 2015/2016 gemerkt“, erzählt sie. „Viele Menschen, die sich ehrenamtlich engagiert haben, haben das aus religiöser Motivation getan.“ Bei der BiSi gebe es viele Ehrenamtliche, die die Arbeit und die Teilnehmenden der Kurse aus christlicher Motivation unterstützen. „Wir erleben Religion als eine ganz große Quelle für Nächstenliebe, Hilfe und für Solidarität.“

Gespräche müssen auf Augenhöhe sein

Um zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Blasen und Gruppen wieder mehr in Kontakt zu kommen und das Verständnis füreinander zu fördern wünscht sich die Sozialarbeiterin Formate auf Augenhöhe. „Diese dürfen nicht belehrend sein. Wichtig ist eine Haltung, die offen dafür ist, Neues zu lernen.“ Gemeinsam mit den Menschen in der BiSi reflektieren sie auch die Vorureile, denen sie begegnen. Das sei auch die beste Möglichkeit, über die eigenen Vorurteile nachzudenken. Das helfe, in Gesprächen reflektiert und überzeugend zu sein.

Toprakoglu plädiert dafür, die Menschen ganzheitlich zu sehen. Oft sei es so, dass man jemanden in einer Situation erlebe und dann verurteile. „Wenn man beispielsweise einen Mann sieht, der sich falsch verhält, darf man nicht nur den Afrikaner, den Syrer oder dem Muslim in ihm sehen. Vielleicht ist er einfach nur ein gestresster Vater, der gerade über die rote Fußgängerampel läuft, weil er spät dran oder in Gedanken ist.“

Die Feierabendgespräche sind eine Kooperation der Citypastoral Kassel, Kassel Marketing und der GALERIA.

Text: K. Leitschuh
Fotos: M. Dellamaria

Religion spielt im Kontext von Migration und Flucht eine große Rolle

Viele Personen in der BiSi fühlen sich von ihr als erkennbare Muslima verstanden, auch wenn sie einer anderen Religion angehören. Sie erkennen viele Überschneidungspunkte, besonders wenn sie über Werte sprechen.

„Das Gottesbild und Gottesverständnis wird durch die Vielfalt bereichert“, da ist sich Toprakoglu sicher. „Das Problem ist in den Religionen häufig, dass über das Gottesverständnis nicht reflektiert werden darf. Es gibt Gelehrte, die etwas vorschreiben, das nicht reflektiert werden soll.“ Treffen die Menschen dann auf ein anderes Gottesverständnis, hinterfragen sie ihre Sichtweisen. „Wieso kann ich nicht Gott größer oder auch anders verstehen?“ Darin wird Vielfalt wieder sichtbar. Beispielsweise spreche sie mit syrischen Frauen, die bisher nur die syrische Gemeinschaft kennen und in Deutschland erstmals afrikanische, türkische oder deutsche Muslime kennenlernen. „Sie sehen, wie vielfältig der Islam eigentlich ist. Sie sehen, dass die anderen auch Muslime sind, aber mit manchen Dingen ganz anders umgehen.“ In der Arbeit der BiSi lernen Frauen sich aus ganz unterschiedlichen Ländern kennen, in denen auch unterschiedliche Religionen friedlich miteinander leben können. Sie erzählen sich aus ihrer Heimat und feiern friedlich gemeinsam.

Die Muslima sagt: „Für mich ist es ein Privileg, die religiösen Grundsätze wie z.B. die Menschenliebe mit der sozialarbeiterischen Fürsorge verbinden zu können.“ Ihr Beruf sei auch eine Berufung. „Mein Gerechtigkeitsgefühl schöpfe ich sehr aus meiner Religion.“ Sie und Ihre Kolleg*innen arbeiten in der BiSi für die Rechte marginalisierter, benachteiligter und diskriminierter Gruppen und deswegen passe ihr Beruf auch zu ihrer Überzeugung.

Die Werte überschneiden sich

Hacer Toprakoglu und ihre Kolleg*innen sprechen mit den Menschen auch über Werte. „Wir besprechen, welche Werte ihnen wichtig sind. Das ist spannend, da unsere Gruppen sehr heterogen sind. Wir haben Mütter und Väter aus unterschiedlichsten Ländern.“ Sie erzählt von einer Übung, in der die Teilnehmenden aus einer großen Anzahl an Werten die drei markieren, die ihnen am wichtigsten sind. „Ganz oft gibt es dabei viele Überschneidungen: Die eritreische und die afghanische Mutter haben eigentlich die gleichen Werte und es wünschen sich alle fast das gleiche für ihre Kinder.“ Sie sprechen auch darüber, welche Werte sie in der Familie erhalten wollen und welche Erwartung in ihren Augen die deutsche Gesellschaft an sie und ihre Kinder hat und ob das widersprüchlich ist. „Es muss für diese Menschen Räume geben, wo sie darüber sprechen können.“

Neben der formalen Bildung hat die Arbeit mit den Menschen in der BiSi unterschiedliche Ziele: „Wir reden über das Integrationsverständnis und bieten Raum, darüber zu reflektieren: Wie soll mein Leben in Deutschland aussehen? Welche Erwartungen habe ich? Wir wollen ja keine gebrochenen Menschen in unserer Gesellschaft haben, die sich irgendwie angepasst haben, aber sich in ihren Werten verloren fühlen.“ Außerdem führen sie viele Übungen zum Demokratieverständnis durch. „Wir fragen, was sie an ihrem neuen Leben in Deutschland gut finden, was schwerfällt, an was sie festhalten möchten oder was sie nicht akzeptieren können. Manchmal sagen wir dann, dass man manche Dinge eben aushalten muss, auch wenn es schwerfällt. Das ist das Leben in einer Demokratie. Auch wenn etwas fremd ist, muss es trotzdem toleriert und respektvoll behandelt werden.“