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Gott ist eine Kraft, auf die man vertrauen kann

Die Kinderonkologin Prof. Dr. Michaela Nathrath war Gast beim elften Feierabendgespräch der Citypastoral Kassel in der Event Lounge am Kassel Service Point in der GALERIA. Kerstin Leitschuh sprach mit ihr über ihre Arbeit mit schwerkranken Kindern, die Kleinen Riesen Nordhessen und darüber, wo Gott zu finden ist. Prof. Dr. Michaela Nathrath ist Klinikdirektorin der Pädiatrischen Hämatologie und Onkologie, Psychosomatik und Systemerkrankungen am Klinikum Kassel. Die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Kinder-Hämatologie und -Onkologie und Palliativmedizinerin ist Initiatorin, Mitbegründerin und Gesellschafterin der Kleinen Riesen Nordhessen. Sie sind der Träger des KinderPalliativTeams und haben 2022 den Hessischen Gründerpreis in der Kategorie Gesellschaftliche Wirkung gewonnen.

Kinder sollen zuhause sterben können

Bis Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte man Kinder, die nicht mehr gesund werden, einfach nach Hause geschickt. Nathraths damaliger Oberarzt sagte zu Eltern ‚Wir können leider nichts mehr für Ihr Kind tun.‘ Sie erzählt, dass sich bei ihr genau dieser schreckliche Satz eingebrannt habe. „Auch wenn man nicht mehr heilen kann, können wir Symptome lindern, die am Lebensende oder auf dem Weg dahin auftreten.“ Das seien in erster Linie Schmerzen, aber auch Depression, Verstopfung oder Atemnot. „Die Eltern sollen nicht auch noch dadurch gequält werden.“ Und die Kinder sollen einschlafen dürfen und nicht an einer hohen Symptomlast versterben. Wenn immer es irgendwie möglich ist, solle ein Kind zu Hause sterben dürfen und nicht in der Klinik sterben müssen. „Darum kümmern wir uns ärztlicherseits um pflegerisch, aber auch natürlich mit hospizlicher Begleitung. Ein Sterben soll so friedvoll wie irgend möglich auch zu Hause stattfinden dürfen.“

Prof. Dr. Michaela Nathrath beim Feierabendgespräch der Citypastoral Kassel
Prof. Dr. Michaela Nathrath beim Feierabendgespräch der Citypastoral Kassel

Die Ärztin erklärt: „Die Eltern brauchen ihre Kraft für ihr Kind. Wir versuchen alle anderen Dinge, die auch Kraft kosten, zu übernehmen. Das sind z.B. die die Auseinandersetzung mit den Krankenkassen oder die Beantragung von medizinischen Hilfsmitteln wie einen Rollstuhl.“

Auch unheilbar kranke Kinder müssen begleitet werden

„Ich wollte einfach schon immer Ärztin werden“ , erinnert sich Prof. Nathrath. „Und tatsächlich wollte ich mich auch schon sehr früh um krebskranke Kinder kümmern und sie behandeln.“ Es sei ein schöner Beruf, weil heute 80 bis 85 Prozent der Kinder von ihrer Krebserkrankung geheilt werden können. „Das heißt aber immer noch, dass zehn bis 15 von 100 Kindern versterben“, betont sie weiter. Und das war für sie die Initialzündung, Palliativmedizinerin zu werden. Palliativmedizin kommt von palliare. Das heißt den Mantel um etwas legen, erleichtern und lindern. „Wir begleiten die Kinder und ihre Familien, die wir trotz aller Anstrengungen und molekulargenetischen Erkenntnissen nicht heilen können.“ Sie wollte allen Kindern mit Krebserkrankungen gerecht werden – auch denjenigen, die nicht geheilt werden können. Das war Nathraths Antrieb, ihren Bereich der Kinderonkologie um die Palliativmedizin zu erweitern.

Den Anstoß, sterbende Kinder zu Hause zu begleiten, gaben Michaela Nathrath jeweils zwei Mädchen. „In München, wo ich herkomme, wie auch später hier in Kassel: zwei junge Mädchen, zehn und zwölf Jahre alt, beide an einem Hirntumor leidend.“ Sie haben realisiert, dass die Ärzte nichts mehr tun können, um sie von ihrer Krebserkrankung zu heilen. „Sie haben ihre Eltern gebeten, nach Hause gehen zu dürfen“, erzählt die Ärztin. In München war das Anfang der 2000er Jahre. Nathrath hat dies als Auftrag empfunden und in München mit Spenden und Drittmitteln eine ‚Kleine Riesen Team‘ gegründet. „Ein Krankenhaus ist kein Ort für ein Kind“, sagt sie. Das Kind in München konnte nach Hause gehen. Sie erzählt weiter: „Seltsam genug: Zehn Jahre später begegnete mir in Kassel Amelie. Wieder ein Mädchen mit einem Hirntumor, die auch sagte: Liebe Eltern, wenn die Ärzte mich nicht mehr gesund machen können, möchte ich keinen Tag länger im Krankenhaus verbringen.“ Inzwischen gab es eine gesetzliche Grundlage, ein PalliativTeam zu gründen. „Gemeinsam mit tollen Menschen haben ich das KinderPallativTeam der Kleinen Riesen Nordhessen ins Leben gerufen, das heute 14 Mitarbeitende hat. Wir ermöglichen Eltern mit schwerkranken Kindern zuhause zu bleiben.“ Vier Ärzte, eine Sozialarbeiterin und eine psychologische Begleitung machen das möglich. Sie fahren zu einer wöchentlichen Visite zum Kind nach Hause. Zusätzlich kommen sie bei Bedarf zu jeder Tages- und Nachtzeit zu den Familien im Regierungsbezirk Kassel nach Hause.

„Ein Sterben zu begleiten, geht nie ganz spurlos an einem vorbei.“

Heute gehe sie mit dem Leid, dem sie als Kinderonkologin und Palliativmedizinerin begegnet, anders um. Am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn habe es sie verzweifeln lassen. Nathrath erinnert sich: „Ich weiß noch, wie ich als junge Ärztin zu Hause weinte und mein dreijähriger Sohn mich fragte warum.“ Inzwischen sei sie professioneller geworden und habe gelernt, damit umzugehen. „Ich kann es ablegen. Es beschäftigt mich selten so, dass ich nachts wachliege oder nachgrüble. Aber ein Sterben zu begleiten, geht nie ganz spurlos an einem vorbei. Es macht mich auch demütig.“ Michaela Nathrath hat drei gesunde Kinder. „Das ist ein großes Glück, um das ich weiß.“ Daraus schöpfe sie Kraft, den Familien zu helfen, die das Glück nicht gehabt haben.

Vor allem haben sie auch die Begegnungen mit tollen jungen Menschen geprägt, die sie begleiten durfte. „Von ihnen konnte ich ganz viel lernen. Sie haben sich mit einer Gelassenheit, einer Selbstverständlichkeit und einem Vertrauen auf Gott auf den Weg des Sterbens gemacht, das mich sehr beeindruckt hat.“ Diese Erfahrungen geben der Ärztin Kraft. Gerade dann, wenn die Eltern einfach nur verzweifelt und untröstlich sind. „Kraft schöpfen kann man tatsächlich aus den Familien, die selber eine Kraft haben, mit diesem schrecklichen Ereignis umzugehen.“

Die Werte, die Professor Nathrath im Leben leiten, lassen sich zum einen aus dem christlichen Glauben ableiten, aber auch aus der Medizin. Sie erinnert an einen Grundsatz der hippokratischen Tradition: Nicht zu schaden sei eine wichtige Aufgabe des Arztes. Seit ihrer Ausbildung habe sich in der Medizin viel getan. Früher ging man davon aus, dass der Arzt schon wisse, was für den Patienten gut sei. Heute entscheiden Arzt und Patient im Idealfall gemeinsam. „Das ist tatsächlich etwas, was sozusagen medizinisch bei mir schon sehr verankert ist“, sagt sie. Außerdem verweist Nathrath auf das Grundgesetz: „Wir haben diesen wunderbaren Satz: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.‘ Das gilt natürlich gerade bei Menschen, die hilflos oder abhängig sind.“ Um dies im Alltag zu leben, helfe einem eine gewisse Demut und vielleicht auch eine Religion, auf Gott ausgerichtet ist.

Gott ist eine Kraft, auf die man vertrauen kann

Gott ist für Michaela Nathrath in erster Linie eine Kraft, auf die sie vertrauen kann. Als Ärztin habe sie tatsächlich erlebt, dass das Vertrauen in eine Transzendenz Menschen Kraft gebe. „Wenn die Familie fest darauf vertraut, dass es nach dem Tod in irgendeiner Form weitergeht, dann schöpfen sie daraus eine große Energie.“ Und sie ergänzt: „Auch mich stärkt das. Ich glaube, es gibt eine über den Alltag hinausweisende transzendentale Kraft, die ich Gott nenne.“ Dieser Glaube trägt sie immer wieder durch den Alltag. Vor über zehn Jahren verstarb ihre jüngere Schwester an Krebs. „Ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn sich der Erdboden unter einem auftut und einen zu verschlingen droht.“ Ihre Geschwister und sie haben im Miteinander und in Gebeten Kraft gefunden. „Diese versuche ich dann auch immer wieder in mir wachzurufen. Das gelingt manchmal gut und manchmal nicht so gut.“

Das Kleine Riesen Haus

2022 haben die Kleinen Riesen Nordhessen den Hessischen Gründerpreis in der Kategorie ‚Gesellschaftliche Wirkung‘ gewonnen. Dieser unterstützt die Planungen für weitere Tätigkeiten. „Wir machen in der Klinik wie am Lebensende bei den Patienten zuhause eine gute Arbeit“, führt Michaela Nathrath aus. „Wir haben aber gelernt, dass dazwischen eine Lücke klafft.“ Schwerkranke Kinder können viele Einschränkungen haben: eine Magensonde, einen Luftröhrenschnitt mit einer Trachealkanüle oder eine Sonde zur Ernährung, die über die Bauchwand in den Magen gelegt wird. „Die Eltern werden häufig mit diesen Kindern nach Hause geschickt, ohne dass sie wirklich kompetent sind, mit ihrem Kind in dieser speziellen Situation umzugehen.“ Die ambulanten Kinderkrankenpflegedienste sind rar geworden und eine adäquate Betreuung fehlt. Dann trete der Drehtüreffekt ein. „Am nächsten Freitagabend kommen die Kinder in einem schlechten Zustand wieder in der Klinik und warten lange in der Notaufnahme. So soll es betroffenen Kinder nicht gehen!“ Um dem gegenzusteuern soll ein ‚Kleine Riesen Haus‘ gebaut werden. „Wir wollen die die Eltern anlernen und ertüchtigen, die komplexe medizinische Versorgung ihrer Kinder selbst vorzunehmen – wenn sie es wollen.“ Das Pflegeteam der Kleinen Riesen lernt die Eltern in 50 Lehreinheiten an. Sie üben z.B. auch, wie sie mit einem Beatmungsgerät in der Straßenbahn fahren. „Wir sind natürlich immer noch der Joker, wenn die Eltern mit ihren Kindern dann nach Hause gehen. Sie können uns anrufen und wir kommen bei Bedarf auch weiterhin zu ihnen nach Hause.“

Die Welt braucht Nächstenliebe und Offenheit

Der christliche Glaube habe einen wunderbaren, aber auch komplizierten und schwierigen Auftrag: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‘ Es sei auch wichtig, seine Mitmenschen mit offenen Augen und einem demütigen und warmherzig offenen Blick zu begegnen und sie aufzunehmen. „Seien es Migranten aus der Ukraine oder Flüchtlinge aus anderen Ländern. Es ist wichtig, Gespräch und Zuwendung auf Augenhöhe zu ermöglichen. Die Welt braucht Nächstenliebe, Offenheit und Menschen, die aufeinander zugehen.“

Die Feierabendgespräche sind eine Kooperation der Citypastoral Kassel, Kassel Marketing und der GALERIA.

Text: K. Leitschuh
Fotos: M. Leitschuh