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„Ich vermisse, dass die Kirche manchmal voran geht“

Die Kirchen sollen in der Kultur weiterhin mit Angeboten und Räumen präsent sein. Das ist für die Musikverlegerin Renate Matthei eine wichtige Aufgabe. „Wenn die Kirche die Menschen wieder mehr erreichen möchte, dann mit Musik“, so Matthei. „Musik ist direkter. Die Menschen verstehen sie, egal welche Sprache sie sprechen.“ Dabei gehe es nicht nur um das Hören, sondern auch um das Spielen. „Die Musiker müssen die Landesprache nicht sprechen, weil die Noten alle gleich sind.“ Matthei habe immer das Gefühl, dass man die Kirche zu gemeinsamen Aktivitäten abholen müsse. „Ich vermisse, dass die Kirche mal vorangeht!“ Über ihr Verständnis von Kultur, Kirche und das Leben einer Verlegerin sprach sie beim 16. Feierabendgespräch der Citypastoral Kassel. Matthei ist Geschäftsführerin des Merseburger Verlags, dem ältesten Verlag für geistliche Musik. Mit diesem veranstaltete sie diverse Konzerte in unterschiedlichen Kirchen, auch in der Elisabethkirche Kassel. „Die Zusammenarbeit fand ich sehr angenehm. Die Menschen waren sehr hilfsbereit und sehr entgegenkommend“, erinnert sich Renate Matthei. Problematisch seien für sie die kühlen Temperaturen in den Kirchen ab Oktober in der Kulturkirche in der Kasseler Innenstadt. „Das ist die Musikerinnen und Musiker wie für die Zuhörer dann schon eine Zumutung dort zu sitzen und zu frieren.“ Der Raum, der Klang und das andere Dasein mache die Kirchen für Matthei zu einem besonderen Ort für Konzerte. „Ich glaube schon, dass es einen Unterschied macht, wenn ich in einem sakralen Raum bin. Da schwingt etwas anderes.“ Obwohl faktisch in Kirchen die meisten Konzerte stattfinden, gibt es immer weniger eigene Musik in den Kirchen. „Viele der Musiken, die wir im Merseburger Verlag haben, sind für die meisten Organisten zu schwer“, berichtet Matthei. Das Niveau sei deswegen gesunken und es werde immer mehr leicht erlernbare Musik gespielt.

Unterstützung und Ehrlichkeit

Matthei versuche andere Menschen in dem, was sie machen wollen, zu unterstützen. „Viele sehen mehr Steine als wirklich da sind. Das sind ja oft nur Krümelchen. Das dann zu relativieren, das mache ich sehr gerne.“ Sie ist davon überzeugt, dass viele Menschen viel mehr Potential haben, als sie meinen. „Ich bin mir ganz sicher, dass wenn alle Menschen mehr das machen würden, was sie eigentlich machen wollen, dann würde die Welt anders aussehen.“

Nicht zuletzt wolle sie mit ihrer Verlagstätigkeit den Wert der Ehrlichkeit an kommende Generationen weitergeben. „Ohne Ehrlichkeit kann man keinen Verlag führen. Wir haben alle eine enge Beziehung zu unserem Gegenüber. Die muss ja tragen und da muss ich meinen Teil dafür tun.“ Die Verträge ihrer Verlage müssen Jahrzehnte und auch noch mit den Erben halten. „Ein Musikverlag funktioniert nur in einer vertrauensvollen Zusammenarbeit. Die Urheber oder Urheberinnen müssen uns vertrauen, und wir müssen denen vertrauen. Dann klappt es.“

Frauen können genauso gut komponieren wie Männer

1986 gründete Renate Matthei den Furoreverlag. Er widmet sich ausschließlich Werken von musikschaffenden Frauen. Darin ist er weltweit der einzige Musikverlag. Es gab kein Schlüsselerlebnis für die Träger des Bundesverdienstkreuzes, dass sie dazu brachte, sich der Frauenfrage zu widmen. Es waren viele kleine Begebenheiten als einzige Frau in einem Unternehmen, das im Nahen Osten arbeitete. „Die meisten Frauen, die mir in dieser Zeit begegneten, haben den Kaffee reingebracht“, erinnert sie sich schmunzeln. „Das war nicht so meins.“ Wenn sie in Besprechungen etwas sagte, war es absolut still. „Ich wollte doch einfach nur was sagen. Das sollte nicht mehr oder nicht weniger Gewicht haben als das, was die Männer sagen.“

Schätze der Region

Dass sie sich selbst als einen politischen Menschen einstuft, wundert nicht. Renate Matthei ist Musikverlegerin, Frauenbewegte, Netzwerkerin, Kulturengagierte und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes. „Wenn mir etwas begegnet, dass mich massiv stört, komme ich ins Handeln bevor ich mich maßlos ärgere“, sagt Matthei. Beispielsweise gründete sie kurzerhand den Euregioverlag als sie merkte, dass es so viele schöne Themen der Region gebe, die nicht bearbeitet werden. Der Verlag will gerade die Schätze der Region Kassel und Nordhessen wachhalten. Für die Verlagschefin ist die Fulda so ein besonderer Schatz. Dort ist sie regelmäßig mit dem Stand Up Paddle unterwegs. „Das ist einfach super“, schwärmt sie. Der Reinhardswald und ein paar alte Kirchen seien weitere Schätze, die sie empfehlen würde. Bei den Kirchen sei es allerdings ein großes Manko, dass sie immer zu seien.

Gleichzeitig bedeutet Kassel Matthei nicht so viel, wie man vielleicht denkt. „Ich finde die Region spannend. Ich lebe gerne hier. Ich lebe auch gerne in anderen Städten. Und ob ich hier in Kassel alt werden möchte, bin ich mir unsicher.“ Dafür müsse der Öffentliche Nahverkehr besser werden.

Kirche ist „Seelsorge, Nächstenliebe und Helfen“

Und Gott? „Gott kann ich mir so nicht vorstellen,“ sagt Matthei nachdenklich. Aber sie brauche etwas Übersinnliches an Halt in ihrem Leben. Das Wort Gott würde sie allerdings nicht benutzen. „Es ist ein spiritueller Halt“, sagt sie.

In der Vorbereitung auf das Feierabendgespräch hätte sich der Verlegerin erinnert, wie weit weg die Kirche heute im Alltag vieler Menschen sei. Ihre Urgroßeltern sind mit 98 und 92 Jahren verstorben. Bei Festen wie Geburtstagen, Weihnachten, Ostern oder Neujahr kam der Pfarrer von gegenüber. Die Familie wartete mit dem Kuchenanschnitt, bis der Pfarrer da war. Abends gab es den Schnaps, solange der Pfarrer noch da war. Sie erinnert sich: „Die kannten sich gut. Es war, wie als wenn ein guter Freund kommt.“ Als es den Urgroßeltern schlecht ging, kam die Gemeindeschwester Anna. „Als meine Großeltern alt waren, kam auch der Pfarrer. Die kannten sich aber gar nicht. Und eine Schwester Anna gab es schon lange nicht mehr. Als mein Vater starb haben wir den Pfarrer gerufen und der kam erst gar nicht. Wenn ich das so anschaue, muss ich sagen: Da hat jemand gepennt!“ Kirche lebe von persönlichen Beziehungen und ist für Matthei auf jeden Fall Seelsorge, Nächstenliebe und einander Helfen.

„Kultur ist für mich etwas Existentielles“

In Zeiten von knappen Kassen und Krisen wird hier und da behauptet, Kultur sei ein Luxusgut. „Ohne Kultur geht der Mensch ein“, da ist sich Matthei sicher. „Kultur ist für mich etwas ganz Existentielles. Es ist Lebensmittel.“ Gehe es dem Menschen gut, mache er gerne Musik. Gehe es dem Menschen schlecht, mache er auch gerne Musik. „Wer denkt, man könne an der Kultur sparen und es würde den Menschen gut gehen, der irrt.“

Matthei möchte mit dem Verlegen von weiblichen Musikschaffenden nicht zeigen, dass Frauen andere Musik machen. „Die Frage, ob es eine weibliche Ästhetik gebe, wurde ja auch schon in der Schriftstellerei oder in der Malerei oder anderen Künsten diskutiert. Ich würde da sagen nein. Aber ich glaube, dass sie genauso gut komponieren können, wie ihre männlichen Kollegen und ich glaube, dass sie Anspruch auf den gleichen Platz haben.“

Mit der Möglichkeit, etwas zu verlegen oder eben nicht, könne sie auch lenken und gestalten. „Wir sind aber immer nur Anbieter. Was gespielt wird, entscheiden die Musiker und Musikerinnen“, gibt die Verlegerin zu bedenken. „Ich finde, es gibt so viele schöne Musik, die wir noch gar nicht gehört haben und die es einfach verdient, gehört zu werden.“

Matthei hört am liebsten frühmorgens Musik: „Nach dem Zeitunglesen, oder sonntags vormittags statt Zeitung. Seltsamerweise höre ich auch gerne in meinem kleinen Häuschen im Wald Musik.“ Heavy Metall und Elektronische Musik seien nicht ihre Musik. Aber sonst höre sie „alles zu seiner Zeit.“ Sie selbst hatte Blockflöten- und Klavierunterricht. „Vor gut zehn Jahren habe sie sich auch einen Kontrabass gekauft.“ Leider komme sie selten zum Lernen und Spielen.

„Ich glaube an Veränderung und an das Gute.“

In den letzten Jahren verändere sich so viel so schnell. Matthei ist überzeugt, dass viele Menschen gar nicht so mitkommen, was das für Folgewirkungen hat. Matthei sei jedoch von Natur aus Optimistin. „Ich habe immer Hoffnung. Ich glaube an Veränderung und an das Gute.“ Das Böse erlebe sie schon auch jeden Tag. „Dem darf man aber nicht so viel Raum geben“, ist ihr Rezept.

Wenn sie eine Hymne zu ihrem Leben schreiben müsste, so hieße diese „Trotz alle dem.“ Und sie würde klingen wie Emilie Mayers 5. Symphonie. Zu dieser schreibt der Furore Verlag auf seiner Internetseite: „Sie zeigt Originalität, Experimentierfreude und Unabhängigkeit.“ Das beschreibt es gut. Nicht nur das Musikstück Mayers. Auch das Leben und Wirken von Renate Matthei.

Die Feierabendgespräche sind eine Kooperation der Citypastoral Kassel, Kassel Marketing und der GALERIA.

Text: K. Leitschuh
Foto: M. Leitschuh