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Nach was sehnt sich der Mensch im Sterben?
Nach was sehnt sich der Mensch im Sterben?

Nach was sehnt sich der Mensch im Sterben?

Ein Gespräch mit Pfarrer André Lemmer und Dr. Dirk Pörschmann vom Museum für Sepulkralkultur

Von Kerstin Leitschuh

In der Caricatura Bar in Kassel an einem Abend im Winter. Dicht gedrängt stehen und sitzen junge und alte Menschen. Vor der Türe ein Schild: „Wegen Überfüllung geschlossen.“ Drinnen beginnt das Gespräch zwischen Pfarrer André Lemmer und Dr. Dirk Pörschmann, Leiter des Museums für Sepulkralkultur in Kassel, moderiert von Kerstin Leitschuh von der Citypastoral Kassel. Das Thema ist: Nach was sehnt sich der Mensch im Sterben?

Leitschuh: Dr. Pörschmann, Sie sagen, wer sich mit dem Tod beschäftigt, der beschäftigt sich letztendlich mit dem Leben. Warum sollen wir uns mit unserem eigenen Tod, mit dem Sterben und der Endlichkeit befassen?

Pörschmann: Es ist eine Bereicherung. Wenn wir fragen, was sich Sterbende wünschen, heißt das vielleicht sogar: Was wünschen sich Lebende? Alle Lebenden sind Sterbende. Wo ist eigentlich die Grenze? Natürlich gibt es klare Momente, in denen der Sterbeprozess einsetzt. Wir wissen aber nicht, was das bei uns ist. Deswegen ist es existentiell, dass wir uns gewahr werden: Unser Leben ist kurz. Das zu akzeptieren, ist für mich eine Bereicherung.

Leitschuh: Wie verändert sich Ihr Leben, wenn Sie über Ihr eigenes Ende nachdenken?

Pörschmann: Dadurch rückt das Jetzt in ein anderes Licht. Wenn ich mich über Verwaltungsakte, die ich als Museumsleiter auch machen muss, ärgere, sage ich mir: Es ist jetzt eben die aktuelle Situation, nimm‘ es an und mach‘ das Beste draus. Ich erlebe es als Privileg, immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden. Wenn der Ärger zu groß wird und ich mich vielleicht auch in irgendwelchen Dingen des Alltags, die das Leben schwermachen, verliere, erdet mich der Gedanke an das Ende. Er macht mir klar: Ich habe jetzt diese Möglichkeit, hier zu sein und die will ich für mich und auch für meine Mitmenschen nutzen.

Leitschuh: Pfarrer Lemmer, die Salesianer bereiten sich regelmäßig mit der „Übung vom guten Tod“ auf das Sterben vor. Machen Sie das auch?

Lemmer: Ja. Ich bete das Nachtgebet der Kirche. Dort heißt der letzte Satz: „Eine gute Nacht und ein ruhiges Ende gewähre uns der allmächtige Gott.“ ES geht darum, den Tod nicht auszuschließen, sondern sich ihm immer bewusst zu sein. Wir müssen uns mit unserer Endlichkeit befassen, um den Schrecken loszuwerden.

Leitschuh: Als meine Oma gestorben ist, war ich im Grundschulalter und durfte nicht mit zur Beerdigung. Meine Eltern sagte, das ist noch nichts für mich. Wie sehen Sie das, ist eine Beerdigung zu erschreckend für Kinder?

Lemmer: Ich glaube, Kinder können viel besser damit umgehen, als wir Erwachsenen, weil wir auf einer ganz anderen Ebene dem Sterben begegnen. Auch für Kinder ist der Verlust schlimm, aber sie können sich ganz anders damit versöhnen. Es kommt nicht darauf an, das Kind davor zu bewahren, sondern es gut zu begleiten. Mein Vater starb zuhause. Meine acht Neffen und Nichten waren alle da, vom Säugling bis zum Zwölfjährigen. Es war für meinen Vater toll, dass er seine Enkel in seiner Nähe hatte. Und für die Kinder war es schön, weil sie den Prozess begleiten konnten. Der Opa war nicht plötzlich weg und alle waren traurig, sondern sie waren beim Sterbeprozess dabei. Natürlich kommen da ganz viele Fragen auf, aber es kann sehr schön sein, diese dann in der Familie zu beantworten. Diese Erfahrungen prägen uns, wenn wir an unser Sterben denken.

Leitschuh: Der verstorbene Papst Benedikt XVI wurde aufgebahrt und hat damit eine rege Diskussion ausgelöst: Macht man das heute noch? Darf man das? Wie sind Ihre Erfahrungen aus der seelsorgerlichen und aus der kulturellen Perspektive?

Lemmer: Es ist wichtig, dass die Menschen, die eine Beziehung zu diesem Verstorbenen hatten, Abschied nehmen können. Eine Betrachtung des Verstorbenen kann dabei helfen: Wenn der Mensch stirbt, ändert sich sein Gesicht. Verstorbene sehen anders aus als vorher. Ich glaube, es ist wichtig für die Hinterbliebenen zu sehen: Das, was jetzt noch vom Verstorbenen da ist, ist nicht das, was ich geliebt und zu dem ich eine Beziehung hatte. Er sieht anders aus, er fühlt sich auch anders an, er riecht sogar auch anders. All das wahrzunehmen, wenn ein Mensch stirbt, empfinde ich als sehr wertvoll.

Leitschuh: Glauben Sie, dass sich Gesellschaften eine würdige Bestattung emotional und materiell immer weniger leisten wollen?

Pörschmann: Die Corona-Pandemie war wie ein Brennglas, das vieles sichtbar gemacht hat. In den Todesanzeigen liest man immer häufiger: „Es wurde im kleinen Familienkreis schon Abschied genommen“ oder „Von Beileidsbekundungen am Grab soll abgesehen werden“. Man traut den eigenen Gefühlen nicht mehr. Dabei haben nicht nur die freudigen Gefühle, sondern alle unsere Emotionen haben ihre Berechtigung. All diese Emotionen machen uns erst zu Menschen und lassen uns auch ein wahrhaftiges Leben und ein menschliches Leben führen. Wir sind in unserer Sozialisierung vom normalen Umgang mit den Toten sehr weit entfernt. In der Kapuzinergruft in Palermo sieht man, dass die Verstorbenen als Mumien an die Wand gestellt wurden. Das ist immer noch unser Kulturkreis. Da hat man erkannt, dass man weiterhin den Leichnam pflegen möchte, so wie wir das Grab pflegen. Man hat den Mumien zu den Gedenktagen einen neuen Anzug angezogen. Das ist alles eigentlich noch gar nicht so lange her.

Pörschmann: Diese Diskussion um den Papst war absurd. Das ging so weit, dass manche Medien auf den Fotos der Aufbahrung den Kopf abgeschnitten haben. Facebook hat das Foto teilweise komplett zensiert. Das zeigt, dass wir uns da von einer Normalität verabschiedet haben. Ich glaube, dass die Menschen, die zu einem aufgebahrten Verstorbenen gehen, auch wirklich verstehen und begreifen wollen: Der Papst, die Queen, dieser Mensch, der für mich wichtig war, ist wirklich tot. Versuchen, mit allen Sinnen zu begreifen, was der Verstand nicht begreifen kann. Dieser Mensch ist wirklich tot und da ist ein schwerer Verlust eingetreten. Und erst dann, wenn ich das in der Weise verstanden habe, dann komme ich in die Trauerarbeit. Ja, es verändert sich das Antlitz des Menschen.

Leitschuh: Pfarrer Lemmer, wären leere Kirchen nicht gute Orte für Urnengräber?

Lemmer: Von mir aus gerne Kolumbarien. Kirchen, die nicht mehr genutzt werden, können zu Begräbnisstätten werden. Viele Menschen brauchen das Grab als Ort der Trauer, als Ort der Erinnerung und als Ort der Beschäftigung mit dem Toten. Also Kolumbarien ja, aber dann bitte mit einer vernünftigen Erinnerungskultur. Mir ist es wichtig, dass wir in unserer Gesellschaft noch mal ein ganz klares Augenmerk auf dem Umgang mit Verstorbenen legen. Nicht nur bis zum Begräbnis, sondern auch danach. Die Begräbniskultur wandelt sich und das Sterben und auch der Ort der Trauer werden immer weiter aus unseren Blickwinkeln gedrängt. Menschen entscheiden sich zu Lebzeiten häufig für Urnenbestattungen, weil sie niemandem zur Last fallen wollen. Das finde ich falsch. Ich erlebe es immer wieder, dass Angehörige sich sehr schwertun, wenn sie merken, dass man das Grab irgendwann nicht mehr identifizieren kann. Sie brauchen einen Ort der Trauer. Ich erlebe auch Angehörige, die in den letzten Tagen vor der Urnenbestattung im Friedwald alles ändern.

Leitschuh: Bei der Frage „Nach was sehnt sich der Mensch im Sterben?“ stellt sich auch die Frage nach der Sehnsucht nach dem Sterben. Menschen mit einer unheilbaren Krankheit oder depressive Menschen sehnen sich häufig nach dem Sterben. Was sagt der Seelsorger dazu?

Lemmer: Diese Sehnsucht gibt es gar nicht so selten. In meiner Ausbildung zum Biologielaboranten mussten wir uns mal selbst Blut abnehmen. Da hatten wir so eine kleine Lanze und damit sollte man sich in den Daumenrücken stechen. Das war für mich total schwer. Der gesunde Mensch strebt danach, sich nicht zu verletzen. Ich glaube, es gibt mehr Menschen als wir denken, die kein Problem hätten, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Allein der Mut fehlt oder die Verpflichtungen hindern sie daran. Als Seelsorger frage ich mich: Warum hat der Mensch keine Liebe zum Leben und zu sich selbst? Ich glaube, da stehen große Schicksale dahinter, die ich gar nicht bewerten kann und darf. Ich kann darüber kein Richter sein. Ich kann die Leere dieses Menschen und die Trauer nicht fühlen.

Leitschuh: Oder diese Sehnsucht nach einem „Nicht mehr da sein“.

Pörschmann: Wir haben im letzten Jahr im Museum eine Ausstellung zum Thema Suizid. Da durfte ich als Kulturwissenschaftler von den Psychologen und Therapeuten viel lernen: Die allermeisten, die sich suizidieren, wollen nicht sterben. Sie wollen nur nicht mehr so leben, wie sie leben. Sie ertragen ihr Leben nicht mehr. Die physischen oder die psychischen Schmerzen sind so massiv, dass sie keinen Ausweg mehr sehen. Und damit wird sozusagen der Tod die Lösung. Sie wollen nicht sterben, aber es ist die letzte Alternative. Da sind wir als Gesellschaft gefordert: Was können wir dazu beitragen, dass das Sterben nicht zur letzten Alternative wird? Es wird sicherlich immer Fälle geben, wo wir nichts dazu beitragen können, weder psychologisch noch medizinisch. Jeder Mensch darf sich das Leben nehmen. Das war schon immer so. Seit einigen Jahren wird die Sterbehilfe diskutiert. Das muss der Deutsche Bundestag entscheiden. Es ist immer noch nicht klar, ob es eine Sterbehilfe-Regelung geben wie in den Beneluxländern geben wird. Da geht es um Tötung auf Verlangen: Nicht passiv jemandem etwas zur Verfügung zu stellen, damit er sein Leben beenden kann, sondern aktiv das Leben von einem anderen Menschen zu beenden. Der Deutsche Ethikrat hat sich intensiv damit auseinandergesetzt, ist zu einem ausgewogenen Statement gekommen aber nicht zu einer klaren Entscheidung. Ich glaube, wenn das in unserer Gesellschaft so kommen wird, müssen wir die Suizidprävention daneben genauso stark unterstützen, damit eben auch andere Wege aufgezeigt werden. Ob die dann begangen werden, entscheidet jeder selbst.

Lemmer: Ich glaube der Ethikrat kommt nicht ohne Grund zu keinem eindeutigen Ergebnis. Das Problem ist: Wann entscheidet wer gesetzlich wann lebensunwert ist? Das ist nicht möglich. Wir gehen schon jetzt zu leichtfertig damit um – am Lebensanfang wie am Lebensende. Wann ist Leben Leben? Diese Diskussion werden wir nie lösen können. Es wird immer ein Pro und Contra geben. Wir reden hier über irreversible Schritte. Ein ungeborenes Leben zu beenden ist irreversibel. Wenn jemand sich nach der Verabreichung der lebensbeendenden Medikamente besinnt und doch leben möchte, es ist irreversibel. Ich weiß, es gibt Menschen, die wollen unbedingt sterben. Ich weiß, es gibt Menschen, die leiden.

Pörschmann: Das Suizidmittel und damit die Option zu haben, kann schon eine befreiende Wirkung haben, ohne dass es jemals genommen wird. Ich glaube, das Wichtigste ist, Hilfe zu leisten und aufzuklären. Studien zeigen: Die Suizide werden nicht weniger, wenn Sterbehilfe legalisiert wird. Es ist ein komplett unterschiedlicher Prozess, ob ich mich suizidiere oder ob ich mich in einen Prozess mit einer Sterbehilfeorganisation begebe. In der Schweiz gibt es Untersuchungen, dass die Angehörigen, die die Menschen mit Sterbewunsch begleiten, häufiger posttraumatische Störungen haben als nach einem harten Suizid. Sie wurden Teil des Sterbewunsches. Emotionen sind in der Trauer wichtig. Ich kann wütend darüber sein, dass jemand gestorben ist und mich hier alleine lässt. Wenn ich aber Teil des Prozesses war, dann habe ich nicht die Möglichkeit, mich über Wut zu distanzieren. Das kann zu posttraumatischen Störungen führen. Mir ist es wichtig, dass man sich vielschichtig mit den Themen beschäftigt. Schwarz – weiß, ja - nein, das funktioniert nicht und ist kontraproduktiv.

Lemmer: Genau da würde ich absolut zustimmen. Dazu kommt unsere medizinisch hochtechnologische Welt. Da gibt es nicht nur den Menschen, der vielleicht sein Leben beendet will. Da gibt es auch plötzlich Situationen, in denen Angehörige Dinge entscheiden müssen, die für oder gegen Leben, für oder gegen Tod sind. Das ist sehr schwierig, wenn man sich vorher keine Gedanken darüber gemacht hat. Wir fragten uns, ob unser Vater nochmal zur Dialyse gehen soll. Alle wussten das er bald stirbt. Ohne Emotionen kann man das sehr gut besprechen. Aber als Angehörige sind wir eben emotional. Da hat dann das medizinische Personal eine entscheidende Rolle. Unser Dorfarzt war Palliativmediziner. Er hat die Entscheidung auf Montag vertagt, weil er wusste, dass mein Vater den Montag nicht mehr erleben wird. Damit hat er uns eine riesengroße Last von den Schultern genommen. Wenn unsere Lieben sterben, werden wir immer wieder Entscheidungen treffen müssen, die uns an unsere emotionalen Grenzen bringen. Deswegen ist es so wichtig, sich immer wieder mit dem Werden und Vergehen zu beschäftigen. Beides gehört einfach zum Leben dazu.

Pörschmann: Ein gutes Angebot dafür sind die „Letzte Hilfe Kurse“. Darin lernen Menschen wie sie Angehörige im Sterben mit einfachen Dingen unterstützen und begleiten können. Diese Initiative gibt es seit einigen Jahren auch hier in Kassel. Es sind fünf intensive Kapitel. Wir machen üblicherweise all diese Erfahrungen nicht mehr, weil immer weniger Menschen aus dem direkten Umfeld bei uns zu Hause sterben.

Pörschmann: Man kann auch sagen, es ist nie zu früh: Ich glaube, dass Wahrhaftigkeit eine große Rolle spielt. Sterbende möchten häufig noch wahrhaftige Erfahrungen machen. Es kann eine Versöhnung oder das direkte Gespräch sein. Sinnliche Erfahrungen können nochmal ganz wichtig werden. Aber eigentlich brauchen wir das Versöhnende, das Direkte, das Sinnliche doch ein ganzes Leben lang. Wenn klar ist, dass ich nicht mehr viel davon haben kann, wird es auf einmal so drängend. Deswegen sollten wir mit Versöhnung, intensiven Gesprächen oder Sinnlichkeit beginnen. Ich glaube, dass wir so auch innerhalb unserer Gesellschaft zu einer wahrhaftigeren Kommunikation und einem stärkeren Zusammenhalt kommen.

Ein zweiter Begriff, nachdem Sie gefragt haben, ist Trost. Ich würde sagen, alle Menschen sind zu allen Zeiten immer wieder trostbedürftig. Wir machen viele Verlusterfahrungen: die große Liebe, die Heimat oder der Beruf. Es gibt Dinge, Situationen und Menschen, die sind unwiederbringbar weg und versetzen uns in einen Leidenszustand. Wir Menschen haben das Bewusstsein, das uns immer wieder auch auf unser Leiden schauen lässt. Und da genau setzt der Trost an: Er schafft es für Momente unser Bewusstsein von unserem Leiden am Leiden abzulenken. Das kann die Begegnung mit einem lieben Menschen sein, der sich ganz öffnet und für uns da ist. Das kann auch Musik oder ein Spaziergang in der Natur sein. Oder auch Dinge, an denen etwas haftet. Das Wort haften steckt auch im Wahrhaftigen. Es sind die wahrhaftigen Erfahrungen, an die sich unsere Erinnerungen haften. Wenn wir im Rückblick daran denken, was in unserem Leben wichtig war, werden es vor allem die Beziehungen sein. 

Liebe geht dann kaputt, wenn keine Kommunikation da ist, wenn sie einseitig ist: einer liebt und der andere liebt nicht. Liebe braucht immer eine Antwort. Wenn ich die Hinterbliebenen frage, ob sie den verstorbenen Menschen noch lieben, dann haben sie das Gefühl, dass die Liebe noch besteht. Wenn ich diese Liebe noch fühle, gibt es irgendwo in irgendeiner Form eine Antwort. Also muss es einen Ort oder eine Situation geben, aus der der andere heraus antwortet. Das ist für mich Trost und nicht Vertröstung. Ich weiß, dass das, was uns auf Erden wirklich ausmacht, über den Tod hinaus bleibt. Das ist auch das, zu dem wir in irgendeiner Form immer wieder Kontakt knüpfen können. Das ist für mich der tiefste Beweis einer Ewigkeit.

Pörschmann: Manchmal sind Verstorbenen präsenter in ihrem Totsein als sie es noch zu Lebzeiten waren, weil sie auf einmal überall ‚sichtbar‘ oder ‚hörbar‘ werden. Die kleinsten Dinge erinnern an sie. Da hilft die Liebesbeziehung, die sozusagen über die Trauer fortgeführt wird, den Tod annehmen zu können. Die Trauer ist eine weiterhin liebende Beziehung zu einem nun abwesenden Menschen.

Leitschuh: Viele Menschen wünschen sich, im Sterben Trost zu finden und letztendlich auch Vergebung und Versöhnung. Sie möchten in Frieden gehen können. Wie kann man sich am besten vorbereiten, getröstet und versöhnt sterben zu können?

Lemmer: Es ist nie zu spät. Ich kann immer anfangen, Dinge für mich und mit den Menschen zu klären, mit denen ich was zu klären habe. Meine Erfahrung als Seelsorger ist: Was wir als Christen Seele nennen, hat eine so starke Verbindung mit dem Körper, dass sie sogar stärker ist als der Körper selbst. Viele Menschen, zu denen ich ans Sterbebett komme, sterben unruhig, weil noch was ungeklärt ist. Als Seelsorger versuche ich, den Menschen zu helfen loszulassen. Ich sage ihnen, dass das, was sie erwartet, keine große Abrechnung ist. Alles, was sie auf Erden nicht klären konnten, kann und darf irgendwie im Himmel geklärt werden. Wenn ich das schaffe, dann passiert es häufig, dass ich nach Hause fahre und entweder klingelt unterwegs schon mein Handy oder zuhause auf dem Anrufbeantworter ist die Nachricht, dass die Person verstorben ist. Sie konnte loslassen, weil sie keine Angst mehr hat. Ich glaube, wenn die Seele Angst hat und nicht gehen mag, überwindet sie manchen körperlichen Sterbewillen. Ich glaube, es ist gut, wenn Angehörige den Menschen in der Sterbephase signalisieren: Es ist in Ordnung, wenn du gehst. Wir hier unten schaffen das. Aus meiner christlichen Hoffnung heraus ist sterben nichts Bedrohliches. Es ist eine Tatsache, die zu mir dazugehört.

Wir kennen alle das Vertrösten nur zu gut: Es wird jemandem auf die Schulter geklopft und gesagt: Wird schon wieder, da mussten wir alle durch. Argumente trösten aber nicht. Es geht um Wahrhaftigkeit und nicht um ein Vertrösten auf irgendetwas, was vielleicht mal sein wird. Das Leid ist im aktuellen Moment da und jetzt braucht es Beistand. Ganz besonders in dieser letzten Lebensphase des Sterbens.

Leitschuh: Vertrösten wir uns manchmal auf das Jenseits? Und wenn ja, was ist das? Was ist nach dem Tod?

Lemmer: Ich persönlich glaube nicht, dass wir uns vertrösten. Ich glaube unser Erdenleben endet hier und danach sind die Kategorien völlig anders sind. Wenn wir das klar haben, gehen wir mit unserem Leben neu und bewusster um. Das, was ich hier habe, werde ich später in der Form nie wieder bekommen. Ich glaube aber, dass die Dimension einer wirklichen Ewigkeit ein Trost und keine Vertröstung sein kann. Ich weiß, es geht in einer gewissen Form weiter, auch wenn ich nicht weiß wie. Menschen sterben und sind aus unserer Realität verschwunden. Gleichzeitig merkt man innerlich, dass sie in irgendeiner Form noch da sind. Menschen sind gestorben, aber man kann innerlich festmachen, dass sie noch in irgendeiner Form da ist: Aufgrund der Liebe, die man zu der verstorbenen Person noch empfindet. Liebe ist eine tolle Emotion. 

Nach was sehnt sich der Mensch im Sterben?
Nach was sehnt sich der Mensch im Sterben?

Leitschuh: Wie stellen Sie sich die Situation nach dem Tod vor?

Pörschmann: Ich bin der Meinung, dass die Bestattungskultur, die Sepulkralkultur, also das, was wir mit unseren Toten machen, ein großer Ursprung unseres Menschseins ist. Da kommen wir eigentlich her, das steht ganz am Anfang. Und gleichzeitig entsteht sofort die Frage: Wohin gehen die Toten? Wo sind die jetzt? Ich glaube, dass Bestattungskultur und Religion gemeinsam auf diese Fragen reagiert haben und sich daraus dann Rituale entwickelt haben, die diese schwierigen Übergänge ermöglichen. Ich glaube, dass es weitergeht, aber ich weiß nicht, wie es weitergeht. Das wird, so denke ich, für uns alle die größte Überraschung unseres Lebens.

Leitschuh: Haben Sie Angst vor dem Sterben?

Pörschmann: Ja, ich habe Angst vor dem Sterben, nicht vor dem Tod. Einen plötzlichen Tod, den ich auch schon erlebt habe, wünsche ich mir nicht für meine Angehörigen. Für mich ist es ein lebenslanges Lernen, die eigenen Vorstellungen zu entwickeln, sich den Ängsten zu stellen, ohne dass wir wissen, wie lange wir Zeit dafür haben, das zu lernen. Wir wissen, dass wir sterben, aber niemand weiß wann – und das ist auch gut so!

Leitschuh: Wie können Riten wie z.B. der Tröster, also das Kaffeetrinken nach der Beerdigung, uns trösten?

Lemmer: Ich glaube, dass jeder, der zu einer Beisetzung kommt, auch das Bedürfnis hat, den unmittelbar betroffenen Menschen irgendetwas zu sagen: Ich habe das Leben mit dem verstorbenen Menschen geteilt. Ich bin heute da, um Dir zu zeigen, dass ich mit Dir trauere. Ich bin heute da, um der verstorbenen Person die letzte Ehre zu erweisen. Beim Tröster kommen dann die lustigen Geschichten raus. Die deutsche Sprache ist sehr schön: Ich kann mich nicht nur an einen Menschen erinnern, sondern ich kann ihn auch erinnern. Da hat sie immer gesessen, jetzt hätte er dies oder jenes gesagt. Da erinnere ich einen Menschen und lass ihn so, wie er für mich war. Das sind Situationen, die ich nur beim Tröster schaffe. Meine Mutter starb einen Monat vor der Priesterweihe. Beim Tröster wurde es richtig lustig und fröhlich. Da kamen die schönsten Geschichten mit meiner Mutter auf den Tisch. Das hat mir geholfen, diese Frau noch mal anders kennenzulernen. Ich war ein bisschen stolz, dass ich ein Kind dieser Frau war und ich ein Stück Leben mit ihr teilen durfte. Das hat mir in der Trauer unheimlich geholfen. Deswegen meine Bitte: Macht den Tröster nicht im engsten Familienkreis. Und: Bitte geht zum Tröster, auch wenn ihr nicht zu den engsten Angehörigen gehört. Vielleicht seid ihr der eine Mensch, der mit der Geschichte, die ihr erzählt und wie ihr den die Verstorbene erlebt habt, den Familienmitgliedern den Tag rettet.

Pörschmann: Es ist wichtig, in diesen schwierigen oder schönen Momenten, die da entstehen können, in Gemeinschaft zu sein. Man gestaltet es gemeinschaftlich und daraus entsteht dann wieder etwas, was alle trägt. Diese Rituale sind tolle Erfindungen unserer Vorfahren, mit denen wir heute abbrechen. Diese haben sich über Jahrhunderte entwickelt, weil sie gut waren und sich bewährt haben. Das dürfen wir nicht vergessen. Ich glaube, es ist wichtig, an vielen Stellen die Gemeinschaft zu stärken. Das Begräbnis ist ein öffentlicher Akt und das Grab ist ein öffentlicher Ort. Wir kennen nicht alle Personen, die unsere Verstorbenen kannten. Würden wir die Urne zuhause aufbewahren oder - wie es im Stadtstaat Bremen erlaubt ist - im Garten verstreuen, haben viele Menschen keine Chance, das Grab zu besuchen. Wenn wir zu sehr Privatisieren geht die Gemeinschaft verloren.

Leitschuh: Kann man mit Menschen, die im Sterben liegen, darüber sprechen?

Lemmer: Ja, wenn wir es nicht ansprechen, wird es ein ungelöstes Sterben. Ich plädiere dafür, das Sterben in Ich-Botschaften anzusprechen. Manchmal braucht es den Impuls für den Sterbenden, dass er merkt, der andere beschäftigt sich damit. Dann kann der Sterbende noch Wünsche äußern oder etwas klären. Ich glaube, in dem Moment, wo wir Dinge aussprechen, verlieren sie auch etwas an Schrecken.

Pörschmann: Nicht nur im Sterben ist das so. Der weiße Elefant, ist im Raum, auch wenn man nicht darüber spricht. Und wenn man darüber spricht, schaut man schon zu zweit auf die Sache und ist nicht mehr allein.

Leitschuh: Wenn wir sagen Körper und Seele eng verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen, müsste doch auch die Seele nach dem Tod zerfallen.

Lemmer: Seele und Körper sind zwar voneinander durchdrungen, aber nicht aus den gleichen Elementen. Die Seele ist für mich die Transzendenz, das Ich des Menschen. Der Körper ist das Biologische, das vom Zerfall beeinflusst ist. Ich vertrete die These, dass der Körper als unsere sterbliche Hülle zerfällt. Aber das, was wir Seele nennen, kann davon losgelöst in einem anderen Seinszustand weiterexistieren. Körper und Seele sind zu Lebzeiten untrennbar miteinander verbunden. Wenn der Mensch stirbt, löst sich die Seele vom zerfallenen Körper. Das ist mein Glaube.

Pörschmann: Man könnte es ja auch als Reifungsprozess sehen. Bereits mit 20 Jahren beginnt das Altern. Vielleicht reifen wir dann nicht mehr körperlich. Aber unsere Persönlichkeit, das, was uns ausmacht, reift noch mal in einer besonderen Weise. Dann ist auch der Sterbeprozess ein Reifungsprozess.

Leitschuh: Was hat es mit dem Jüngsten Gericht auf sich, das ja früher viel Angst vor dem Tod gemacht hat? Wie sieht das die Kirche heute?

Lemmer: Heute glaubt man auch noch an das Jüngste Gericht. Ich glaube nicht, dass es einen Gott gibt, der eine Hölle erschafft und dann an der Grenze zwischen Leben und Tod steht und sagt: Du links Himmel, du rechts Hölle. Ich glaube, dass der liebe Gott uns im Leben durch die Bibel immer wieder gezeigt hat, wie es ist zu leben und dass man mit ihm gut leben kann: indem man wahrhaftig lebt, indem man die Nächstenliebe lebt. Jedes Mal, wenn wir das nicht tun, nennen wir das Sünde. Dann entfernen wir uns von Gott. Mein Bild für Ewigkeit, Hölle und Himmel sieht so aus: Stellen Sie sich vor, Sie sterben und stehen an einem tiefen Abgrund. Auf der anderen Seite steht Gott. Über diesen Abgrund führt keine Brücke. Und Gott sagt: Komm. Sie haben ihr ganzes Leben immer versucht, auf sich zu achten, alles alleine hinzubekommen und brauchten weder Gott noch Freunde. Haben Sie dann das Vertrauen loszulaufen, obwohl Sie keine Brücke sehen? Da würden Sie als rationaler Mensch sagen: Nein, hier ist keine Brücke, ich bleibe hier. Ich glaube, das ist die Hölle: Da drüben was zu sehen, was richtig schön ist, aber nie das Vertrauen gehabt und gelernt zu haben, loszulaufen. Einsam zu sterben und einsam zu bleiben im Tod ist, glaube ich, das Schlimmste, was wir uns vorstellen können. Ich glaube, das ist Hölle. Mein ganzes Menschenbestreben sollte darauf hinauslaufen, dass ich diesem Gott in die Augen gucken kann und er guckt mich an und er sagt: Komm rein! Das wäre meine Vorstellung vom Himmel.

Leitschuh: Der Tod verbindet alle Religionen und Kulturen. Im christlichen Glauben ist Tod und Auferstehung die Vollendung des Lebens.

Lemmer: Ja, erst durch Jesus Christus wurde es relevant, dass Tod und Auferstehung dazugehören. Dem jüdischen Volk war es völlig klar, dass man nur eine Chance hat. Danach ist Feierabend, es gibt keine Ewigkeit. Jesus selbst wächst in einem Kontext auf und lehrt in einem Kontext, wo noch nicht an eine Auferstehung geglaubt wurde. Erst nach dem Tod und der Himmelfahrt Jesu bekam dieser Glaube Relevanz.

Pörschmann: Ich finde den Begriff der Vollendung sehr schön. Ich glaube, dass können auch säkularisierte Menschen so sehen. Wenn man es schafft, dass man mit dem Tod das Leben vollendet hat, dann ist es ein gelungenes Leben auch für die, die nur an das irdische Leben glauben und für die, die an das Jenseitige glauben, umso mehr.

Weitere Infos:

André Lemmer ist seit September 2022 Pfarrer der Pfarrei Sankt Elisabeth in Kassel. Er machte zunächst eine Ausbildung zum Biologielaboranten, arbeitete in der Forschung und Entwicklung und später in einer Produktkontrollabteilung. Er kündigte den Job und machte das Abitur auf dem 2. Bildungsweg und studierte Theologie. Ab und an tritt er als Poetry Slamer auf, backt Brot und stellt Wurst her.

Dr. Dirk Pörschmann leitet seit Januar 2018 das Museum und Zentralinstitut für Sepulkralkultur in Kassel. Zudem ist er Geschäftsführer des Trägervereins, der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e. V. Dirk Pörschmann hat Kunstgeschichte, Soziologie, Geschichte und Philosophie studiert und in Kunstwissenschaften promoviert. Er ist auch als Kurator, Autor und Herausgeber tätig.

www.citypastoral-kassel.de

www.sepulkralmuseum.de

www.st-elisabeth-kassel.de